Aus der Erkenntnis, dass Trauer ein aktiver Prozess ist, entwickelte der Trauerforscher William Worden ein Modell, nach dem Trauernde in ihrem Trauerprozess verschiedene Aufgaben bewältigen müssen. Wie bei allen Erklärungsmodellen gilt auch hier, dass es nicht allgemeingültig zu verstehen ist. Es ist zu beachten, dass die einzelnen Aufgaben nicht starr nacheinander “abgearbeitet” werden. Sie sind miteinander verknüpft und wechseln ohne erkennbare Reihenfolge. Erkenntnisse bzw. Bewältigungen in einer Aufgabe haben Auswirkungen auf die anderen.
Worden unterteilt den Trauerprozess in vier Aufgaben:
Aufgabe 1: Den Verlust als Realität akzeptieren: Der Tod eines geliebten Menschen trifft uns meist völlig unvorbereitet. Selbst bei einem längeren Sterbeprozess oder dem Tod im hohen Lebensalter ist die heftige Verneinung des Verlustes normal. Auch nach Wochen und Monaten sind die insgeheime Hoffnung auf Rückkehr des Toten bzw. Sätze wie “Das ist alles nur ein schrecklicher Traum” keine Seltenheit. Jedoch ist die Voraussetzung für jeden Trauerprozess die schrittweise Realisierung und Akzeptanz des Verlustes. Hilfreich dafür ist der Abschied vom Verstorbenen. Den toten Körper zu sehen und zu berühren, machen deutlich, dass der Mensch nicht mehr zurückkehren wird. Sollte der Abschied vom Toten nicht möglich gewesen sein, gibt es Rituale, die helfen können, den Verlust begreifbar zu machen (Besuch der Bestattung, Aufschreiben von Erinnerungen, Gefühlen und Ungesagtem in Form von Tagebüchern oder Briefe an den Verstorbenen). Gerade im ersten Trauerjahr, in dem vor allem besondere Tage, wie Geburtstage, Todestage, Feiertage das erste mal ohne die verstorbene Person begangen werden müssen, lassen uns den Verlust realisieren.Dies bedeutet jedoch nicht, den Verlust gutzuheißen, sondern es geht darum, sich der Wirklichkeit zu stellen, dass die geliebte Person tot ist und nicht zurückkehren wird.
Aufgabe 2: Den Schmerz verarbeiten: Der tiefe Schmerz, der durch den Verlust eines nahestehenden Menschen ausgelöst wird, hat verschiedene Dimensionen. Neben spezifischen Verhaltensweisen können die unterschiedlichsten Gefühle den Trauerprozess begleiten (Wut, Angst, Verzweiflung, Sehnsucht, Schuld, Kummer, Einsamkeit, Dankbarkeit, Liebe, Leere, Ohnmacht). Häufig drücken sich diese Emotionen auch in somatischen Beschwerden aus (z. B. Herz-, Hals-, Brust,- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Appetitmangel). All diese Gefühle und Beschwerden sind in der Trauer Normalität. Der Schmerz wird unterschiedlich erlebt, denn er wird von diversen Faktoren beeinflusst. Doch unabhängig von der Intensität, gilt für alle, dass der Schmerz anerkannt und durchlebt werden muss. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht auch mal von seinem Kummer ablenken und aufmuntern lassen darf. Doch Ratschläge aus dem sozialen Umfeld wie “Sei dankbar, dass Du sie hattest.” oder “Er würde nicht wollen, dass Du so leidest.”, die sicher einer guten Absicht folgen, sind nicht hilfreich. Sie entmutigen die Trauernden, das Gespräch zu suchen oder hinterlassen bei ihnen das Gefühl, etwas falsch zu machen.
Aufgabe 3: Sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anpassen: Am Beginn des Trauerprozesses überblickt man selten, was man mit dem Verstorbenen alles verloren hat. Erst mit der Zeit zeigt es sich, worin die Rollen der verstorbenen Person bestanden. In einer Partnerschaft sind das beispielsweise der beste Freund, Reisegefährte, Sexualpartner, Koch, Finanzminister, der Fels in der Brandung. Die Erkenntnis, mit welcher Vielzahl an Aufgaben man nun alleine da steht, führt anfangs meist zu Überforderung. Der Trauernde selbst muss neue Fertigkeiten (z. B. Haushalt, Autofahren, Buchführung, handwerkliche Fähigkeiten, Kochen, etc.) erlernen und Rollen übernehmen, die vorher der Verstorbene inne hatte und das bedeutet zum einen im Trauerprozess zusätzliche Anstrengungen meistern zu müssen. Zum anderen bieten sich neue Lebensmöglichkeiten und Chancen, sich weiterzuentwickeln sowie neue Seiten an sich zu entdecken. Das Gelingen von Lebensaufgaben, die man sich vor dem Verlust nie zugetraut hätte, kann zu einem neuen stärkeren Selbstbewusstsein führen und Antworten auf die Frage geben “Wer bin ich abgesehen von meiner Liebe zu dem verstorbenen Menschen?”.
Aufgabe 4: Eine dauerhafte Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben finden: In dieser Aufgabe stecken zwei Aspekte. Einerseits brauchen wir die Möglichkeit, uns zu erinnern und den Verstorbenen in uns zu bewahren. Andererseits verbirgt sich in dieser Aufgabe auch, der Aufruf, in ein neues Leben aufzubrechen. Wir haben einen geliebten Menschen verloren, aber die Erinnerungen, Gedanken, gemeinsame Erlebnisse, Inspirationen und Einflüsse können wir aktiv in neue Lebensmuster einbeziehen. Im Grunde geht es darum, einen Platz für den Verstorbenen und Formen des Erinnerns zu finden und dabei selbst weiter zu leben. Den meisten fällt zuallererst der Platz im Herzen ein. Die weiteren Möglichkeiten sind so unterschiedlich, wie die Menschen vielfältig sind. Für die einen ist der Friedhof ein zentraler Ort, sich dem Verstorbenen nahe zu fühlen. Daneben gibt es viele andere persönliche Gedenkorte (z. B. die Parkbank, auf der man gemeinsam saß oder das Café um die Ecke). Für die anderen sind Fotos, andere Erinnerungsgegenstände wie Schmuck oder der Lieblingspullover, Tattoos oder eigene Rituale hilfreiche Möglichkeiten, um eine neue Form der Verbindung zum Verstorbenen zu finden. Es ist möglich, dass die „neuen Plätze“ nicht immer positiv besetzt sind. Es können auch Ängste entstehen (z. B. so früh zu sterben wie die Mutter oder die gleiche Krankheit zu erleiden). Manch einer sieht sich gezwungen, die Lebensaufgabe des Verstorbenen fortzuführen oder ein gegebenes Versprechen am Sterbebett einzulösen, obwohl es gar nicht in sein Lebenskonzept hineinpasst. Hier ist es wichtig, sich von selbst auferlegten Vorstellungen zu lösen und einen positivbesetzten Platz (siehe oben) für den Verstorbenen zu finden.
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